Weihnachten mit Johann Sebastian Bach: aus dem Programmheft der Weihnachtskonzerte 2023 des Bachchores Hannover

Kein anderes Werk ist so untrennbar mit Weihnachten verbunden wie das Weihnachts-Oratorium von Johann Sebastian Bach. Die unerschütterlich positive Stimmung des Oratoriums, der festliche Glanz der Musik Bachs sowie die Sehnsucht der Menschen nach einer heilen Welt führen zu einer beispiellosen Popularität.

Aber welche Musik würde zu Weihnachten erklingen, wenn das Weihnachts-Oratorium verschollen wäre? Wahrscheinlich immer noch Bach! Schließlich hat er eine Reihe weiterer Kantaten für die Weihnachtszeit komponiert, deren Musik genauso feierlich ist. Drei besonders prachtvolle Kantaten erklingen heute gemeinsam mit der berühmten ersten Kantate des Oratoriums.

„Unser Mund sei voll Lachens“ BWV 110

Die Kantate BWV 110 „Unser Mund sei voll Lachens“ komponierte Bach neun Jahre vor dem Weihnachts-Oratorium für den 1. Weihnachtsfeiertag 1725. In ihr wechseln sich Bibelzitate (Nr. 1, 3, 5) und frei gedichtete Arien (Nr. 2, 4, 6) ab, ehe ein schlichter Choral das Werk beschließt.

Die Arien sind von sehr unterschiedlichem Charakter. Die besinnliche Tenor-Arie „Ihr Gedanken und ihr Sinnen“ (Nr. 2) mit zwei konzertierenden Querflöten verweist auf die zentrale Aussage von Weihnachten: „Er wird Mensch und dies allein, dass wir Himmelskinder sein.“ Die Alt-Arie „Ach Herr, was ist ein Menschenkind“ (Nr. 4) mit obligater Oboe d’amore stellt dem erlösten Menschen im Mittelteil den verlorenen Menschen gegenüber: „Ein Wurm, den du verfluchest, wenn Höll’ und Satan um ihn sind.“ Die Chromatik verstärkt dabei die drastischen Worte der Textvorlage. Die Bass-Arie „Wacht auf, ihr Adern und ihr Glieder“ (Nr. 6) mit konzertierender Trompete schlägt einen heroischen Ton an. Das Duett „Ehre sei Gott in der Höhe“ (Nr. 5) vertont den Lobgesang der Engel aus der Weihnachts-Geschichte. Es ist eine Umarbeitung des Einlagesatzes „Virga Jesse floruit“ aus Bachs Weihnachts-Magnificat Es-Dur BWV 243a.

Aus musikalischer Sicht besonders interessant ist der festliche Eingangschor, der eine Bearbeitung der Ouvertüre aus Bachs Orchestersuite D-Dur BWV 1069 ist. Die prachtvollen Rahmenteile der Ouvertüre bleiben dabei weiterhin dem Orchester vorbehalten. Die instrumental gedachte Virtuosität des schnellen Mittelteils überträgt Bach hingegen auf die Singstimmen, die zum Teil neu komponiert sind und zum Teil Partien der Streichinstrumente und der Oboen aus der Ouvertüre übernehmen. Im rasanten Chorsatz ist das „Lachen“ ganz deutlich zu hören.

„Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage!“ BWV 248/I

Die am 1. Weihnachtsfeiertag 1734 uraufgeführte erste Kantate des Weihnachts-Oratoriums befasst sich mit dem Beginn der Weihnachtsgeschichte. Die biblische Erzählung aus dem Lukas-Evangelium mit der Ankunft Marias und Josephs in Bethlehem und der Geburt Jesu im Stall lässt sich durch den wörtlichen Bericht des Evangelisten hautnah miterleben. Für die Chorsätze und Arien greift Bach auf weltliche Kantaten zurück. Zum Glück, denn sonst wäre diese wunderbare Musik heute entweder verloren oder nur wenigen Bach-Spezialisten bekannt.
Der groß angelegte Eingangschor (Nr. 1: „Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage“) in strahlendem D-Dur mit Pauken und Trompeten gehört zu den bekanntesten und beliebtesten Chorsätzen Bachs überhaupt. Er geht auf den Eingangschor der Geburtstags-Kantate BWV 214 für Maria Josepha, Kurfürstin von Sachsen und Königin von Polen, zurück. Dessen erste Textzeile „Tönet, Ihr Pauken! Erschallet Trompeten!“ übernahm Bach zunächst sogar in die Partitur des Weihnachts-Oratoriums, ehe er sie durch die heute bekannten Worte ersetzte. Auch die Bass-Arie „Großer Herr, o starker König“ (Nr. 8) ist eine Parodie aus BWV 214.

An anderer Stelle erreicht Bach durch subtile Änderungen der Vorlage einen völlig neuen Ausdruck seiner Musik. Die Alt-Arie „Bereite dich Zion, mit zärtlichen Trieben“ (Nr. 4), im Weihnachts-Oratorium ein friedliches Wiegenlied in der Erwartung Jesu, geht auf die Kantate BWV 213 „Herkules am Scheidewege“ zurück. Dort weist ein erboster Herkules die ihn umgarnende personifizierte Wollust mit den Worten zurück: „Ich will dich nicht hören, ich will dich nicht wissen, verworfene Wollust, ich kenne dich nicht!“

Der anschließende Choral „Wie soll ich dich empfangen“ (Nr. 5) wird auf die gleiche Melodie gesungen wie „O Haupt voll Blut und Wunden“, der zentrale Choral aus Bachs Matthäus-Passion BWV 244. Dies ist jedoch kein Hinweis auf die Passion Jesu, sondern schlicht und ergreifend die damals in Leipzig gebräuchliche Melodie. Den vom Chorsopran gesungenen Choral „Er ist auf Erden kommen arm“ (Nr. 7) verbindet Bach mit einem frei gedichteten Bass-Rezitativ („Wer will die Liebe recht erhöhn“).

Im Schlusschoral „Ach mein herzliebes Jesulein“ (Nr. 9) über die Melodie „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ fügt Bach Zwischenspiele für Trompeten und Pauken ein. Zum einen schlägt er so den Bogen zum Eingangschor, zum anderen betont er durch diese Instrumente und die zahlreichen Oktavsprünge die Majestät Gottes.

„Dazu ist erschienen der Sohn Gottes“ BWV 40

Die Kantate BWV 40 „Dazu ist erschienen der Sohn Gottes“ ist die älteste der heute erklingenden vier Weihnachts-Kantaten. Bach komponierte sie in seinem ersten Amtsjahr in Leipzig für den zweiten Weihnachtsfeiertag, den 26. Dezember 1723.

Besonders ist, dass von den acht Sätzen der Kantate vier für den Chor geschrieben sind: ein groß angelegter Eingangschor und drei Choräle (Nr. 3, 6 und 8) über drei verschiedene Melodien. Darüber hinaus fällt die etwas drastisch anmutende Textvorlage auf, die die Geburt Jesu im Kontext des Sündenfalls im Paradies beleuchtet.

Der eindrucksvolle Eingangschor mit Hörnern und Oboen mündet in eine Fuge, deren intensive Rhythmen das „Zerstören“ der „Werke des Teufels“ plastisch darstellen. Die Musik hat Bach später in seiner Lutherischen Messe BWV 233 wiederverwendet.

Nach einem schlichten Rezitativ (Nr. 2) leitet der erste Choral (Nr. 3) zur Thematik der Sünde über. Eine geradezu martialische Bass-Arie (Nr. 4) in d-Moll verkündet den Sieg über die „höllische Schlange“ durch die Geburt des Heilands. Nach einem weiteren Rezitativ (Nr. 5) nimmt der zweite Choral (Nr. 6) das Bild der Schlange, deren Kopf nun zerknickt sei, noch einmal auf. Die mit virtuosen Koloraturen gespickte Tenor-Arie (Nr. 7: „Christenkinder, freuet euch!“) im wiegenden 12/8-Rhythmus und der abschließende dritte Choral (Nr. 8) stellen sodann wieder die Freude der Christenheit über das weihnachtliche Geschehen in den Mittelpunkt.

„Gloria in excelsis Deo“ BWV 191

Mit ihrem lateinischen Text ist die Kantate BWV 191 „Gloria in excelsis Deo“ ein Unikum in Bachs riesigem Kantatenwerk. Die Aufführung einer solchen lateinischen Komposition wäre in Leipzig im Gottesdienst mehr als ungewöhnlich gewesen. Daher ist sie wahrscheinlich für einen anderen Anlass entstanden, möglicherweise für eine akademische Feier in der Paulinerkirche am ersten Weihnachtsfeiertag 1742. In jedem Fall eignet sich die mit Trompeten und Pauken groß besetzte Musik hervorragend für die Weihnachtszeit.

Die Musik der Kantate geht vollständig auf Bachs h-Moll-Messe zurück. Oder genauer gesagt: auf die 1733 komponierte Erstfassung der „Missa“, die lediglich aus Kyrie und Gloria besteht. Der Eingangschor stellt eine nahezu wörtliche Übernahme des gleichnamigen Chors aus der „Missa“ dar. Das Duett „Gloria Patri et Filio et Spiritui sancto“ für Sopran und Tenor geht auf das „Domine Deus“ der „Missa“ zurück und weicht aufgrund der Neutextierung stärker von der Vorlage ab. Außerdem ist die Bearbeitung 20 Takte kürzer als das Original.

Im prächtigen Schlusschor „Sicut erat in principio“, der die Musik des „Cum Sancto Spiritu“ aus der „Missa“ übernimmt, fügt Bach aufgrund des längeren Texts zu Beginn jeder Textzeile einen zusätzlichen Takt ein. Auch sonst greift er hier vielfach in subtiler Weise in den Notentext ein. Unter anderem gibt es neue Partien für die Flöten, die dem Satz vielleicht eine weihnachtliche Stimmung verleihen sollen.

Brandenburgisches Konzert Nr. 1 F-Dur BWV 1046

Bachs Brandenburgische Konzerte gelten als Inbegriff barocker Konzerte. Es handelt sich um eine Zusammenstellung von sechs in Köthen und Weimar komponierten Werken, die sich durch ihre stilistische Vielfalt und ihre abwechslungsreiche Besetzung auszeichnen. Bach selbst bezeichnete sie in der 1721 dem Markgrafen Christian Ludwig von Brandenburg gewidmeten Partitur als „Concerts avec plusieurs instruments“.

Im Brandenburgischen Konzert Nr. 1 stehen sich, dem Modell des Concerto grosso folgend, zwei Instrumentengruppen gegenüber: Das vierstimmige „Ripieno“ aus Streichern, Fagott und Cembalo sowie ein ungewöhnlich besetztes „Concertino“ aus zwei Hörnern, drei Oboen und einem Violino piccolo (einer um eine kleine Terz höher gestimmte Geige).

Die Hörner verleihen dem Eingangssatz ein ausgeprägtes Jagdkolorit. Eine frühe Fassung des Konzerts diente als repräsentative Eingangsmusik für Bachs sogenannte „Jagd-Kantate“ BWV 208 („Was mir behagt, ist nur die muntre Jagd“), die 1713 anlässlich des Geburtstag von Bachs Dienstherrn, Herzog Christian zu Sachsen-Weißenfels, am Abend „nach gehaltenem Kampf-Jagen“ aufgeführt wurde. Das wilde Treiben zeichnet Bach durch authentische Signale der Parforce-Jagd und komplizierte rhythmische Überlagerungen nach. Aus allen Richtungen scheinen sich die Instrumentalisten zuzurufen, einander zu folgen, zu überholen und sich wieder zu trennen.

Im zweiten Satz („Adagio“) stimmt die Oboe eine klagende Melodie an, die im weiteren Verlauf des Satzes zwischen Oboe und Violino piccolo hin- und herwandert, ehe sich beide Instrumente im Kanon vereinen. Der dritte Satz („Allegro“) kehrt mit virtuosen Partien für das erste Horn und den Violino piccolo in die Jagdszenerie des Anfangssatzes zurück.

An das eigentliche, dreisätzige Konzert schließt sich als vierter Satz eine Art Tanzsuite an. Das Gerüst dieses Satzes bildet ein elegantes Menuett, das viermal unverändert erklingt und dabei zwei Trios sowie eine im Zentrum stehende Polonaise umrahmt. Die Polonaise ist wahrscheinlich eine Hommage an den neuen Adressaten des Konzerts, Christian Ludwig von Brandenburg, dessen Ländereien bis fast nach Danzig reichten. Während im Menuett das gesamte Ensemble zum Einsatz kommt, sorgt Bach in den Einschüben für eine große Klangvielfalt: Im ersten Trio kommen nur die beiden Oboen und das Fagott zum Einsatz, in der Polonaise das Continuo und die Streichinstrumente (mit Ausnahme des Violino piccolo) und im zweiten Trio die Hörner und die Oboen.

Robert Waltemath